Südliches Afrika

Etosha, Namibia

Die Hai||om sind eine San-Gemeinschaft von etwa 10.000 Menschen im Norden Namibias. Sie sind eine von mehreren San-Gruppen im Land und zählen zu den ersten Bewohnern Namibias. In Folge der kolonialen Landenteignung ist die Gemeinschaft heutzutage weit zerstreut – einige Hai||om leben in informellen Siedlungen an den Rändern kleiner Städte, andere auf mehr oder minder ertragreichen Farmen, die von der Regierung für die Umsiedlung bereitgestellt wurden, wieder andere verdingen sich als Tagelöhner mehr schlecht als recht auf den Ländereien größerer landwirtschaftlicher Betriebe. Im Gegensatz zu anderen Gruppen in Namibia haben die Hai||om seit der Unabhängigkeit des Landes 1990 keinen Zugang zu eigenem Land erhalten.

Ursprünglich lebten die Hai||om auf dem Land, das heute Teil des Etosha Nationalparks ist, eine Touristenattraktion von großer Bedeutung für die Wirtschaft Namibias. In den 1950er Jahren wurden sie von dort vertrieben. Die damals vorherrschende Naturschutzphilosophie schrieb vor, Schutzgebiete sollten allein Tieren und Pflanzen vorbehalten sein – und selbst die Menschen, die sich um dieses Land seit Gedenken kümmerten und seinen Erhalt garantierten, sollten es verlassen. Diese Vorstellung von Naturschutzgebieten als abgeriegelte, menschenleere Gebiete (auf englisch „fortress conservation“), die mit der Vertreibung der Lokalbevölkerung einhergeht, wurde in den letzten Jahren vielerorts heftig kritisiert. Die weltweite Anerkennung für Indigene als erfolgreiche Naturschützer und Wächter ihrer Territorien und der Respekt für ihren Beitrag zum Erhalt der Biodiversität haben in den letzten Jahren stark zugenommen, und gehen vielerorts mit der Festschreibung ihrer Landrechte Hand in Hand.

Jan Tsumib ist einer der letzten Hai||om, der in Etosha geboren wurde und seine Kindheit dort verbracht hat, bevor seine Familie zusammen mit allen anderen das Gebiet verlassen musste. Als wir ihn vor einigen Jahren trafen, sprach er mit uns über die Dringlichkeit, die Kultur und das historische Gedächtnis der Hai||om zu bewahren. Er suchte nach einer Möglichkeit, sein umfassendes Wissen an die jüngere Generation weiterzugeben. Gemeinsam entwickelten wir die Idee, eine Gruppe Hai||om Jugendlicher nach Etosha zu bringen. OrigiNations unterstützte ihn und seine Gemeinschaft daraufhin dabei, einen zehntägigen Intensivworkshop in der Heimat der Hai||om durchzuführen.

Der Pilotworkshop im Sinne von Jan Tsumib’s Wunsch fand im Umweltbildungszentrum des Nationalparks vom 8. – 17. August 2018 statt. Es war das erste Mal, dass eine Gruppe Hai||om die Einrichtung auf diese Art und Weise nutzte – dort übernachtete, Ausflüge unternahm, sich gemeinsam Wissen zu ihrer Kultur erarbeitete und eigene Projekte entwickelte an einem Ort, der normalerweise nur anderen, gesellschaftlich dominanten Gruppen und Schulklassen von außerhalb vorbehalten war. Zentral für die Erlaubnis, den Workshop innerhalb Etoshas durchführen zu können, war die hohe Wertschätzung, die Jan Tsumib von den Parkangestellten erfährt. Er hat dem Nationalpark dreißig Jahre seines Lebens als Ranger gedient, und seine Kollegen haben immens von seinem umfassenden Wissen des Etosha-Ökosystems profitiert. Sie haben von ihm gelernt, im Busch zu überleben und einige von ihnen beteuerten, er habe ihnen mehrmals in brenzligen Situationen das Leben gerettet. Als klare Anerkennung des enormen Beitrags, den er zum Erhalt des Schutzgebietes geleistet hat, setzten seine ehemaligen Kollegen, die inzwischen zu höheren Beamten aufgestiegen waren, alle Hebel in Bewegung, um seinen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen.

Für einen so langen Zeitraum mit einer Gruppe junger Hai||om vor Ort sein zu können ermöglichte Jan Tsumib und zwei weiteren Dorfältesten ihr Wissen, ihre Fähigkeiten, Werte und Erinnerungen zu neuem Leben zu erwecken. Sie teilten mit den Jugendlichen die Geheimnisse dieser einzigartigen Landschaft und erzählten ihnen die Geschichte ihrer Vorfahren an den Orten, an denen sie sich ereignet hatte. Gemeinsam besuchten sie die Wasserstellen, an denen ihre Ahnen siedelten und die ihr Lebensmittelpunkt waren, als auch die Friedhöfe, auf denen sie begraben sind. Sie lernten unterschiedliche Heilpflanzen und Nahrungsmittel kennen, erprobten sich in der Dokumentation von Wissen mit audiovisuellen Medien, lernten Geschichten und Tänze am Lagerfeuer, und engagierten sich rege bei zahllosen Diskussionen und kreativen Kleinprojekten.

Die meisten Jugendlichen waren zuvor noch nie in Etosha gewesen. Die Woche, die sie dort voll mit kulturellen Aktivitäten verbrachten, hatte für sie eine große symbolische Bedeutung, ein sich Wieder-Verbinden mit dem verlorenen Heimatland. Darüberhinaus bot der Workshop den Jugendlichen die Gelegenheit, ihre eigenen Strategien und Vorschläge zu entwickeln, wie sie ihr bedrohtes Kulturerbe am Besten schützen und voranbringen können. Die beiden letzten Tage des Workshops fanden in Ondera statt, eine von der Regierung betriebene Farm, auf der Jan Tsumib und die Mehrheit der Workshop-TeilnehmerInnen heute leben. Hier teilten die jugendlichen TeilnehmerInnen ihre Erfahrungen sowie ihre neuen Fähigkeiten und Erkenntnisse mit ihren Gleichaltrigen und der Gemeinschaft. Der Workshop fand seinen Höhepunkt in einem feierlichen Abschluss, bei dem Dorfälteste und Jugendliche gemeinsam einen Tag voller Tanz, Gesang und alten Geschichten verbrachten.

Zitate der TeilnehmerInnen:

Jan Tsumib (Dorfältester): “Wir haben unseren Schatz Etosha verloren. Unser Land zu verlieren ließ uns auch unsere Sprache, Kultur, unser Wissen, unser ganzes Erbe verlieren. Früher haben die Menschen getanzt und gesungen, heute schalten die jungen Leute das Radio an und hören sich Musik an, die von anderen stammt. Wir alle versuchen heute, das Leben der anderen zu leben. Wir, die Dorfältesten, wollen nicht, dass unsere Kultur ausstirbt – deswegen teilen wir unser Wissen mit den jungen Menschen.”

Memsie Hanes, 23: “Viele von uns hatten nicht das Glück, mit ihren Großeltern aufzuwachsen. Heute trinken viele Jugendliche Alkohol oder nehmen Drogen, weil sie nichts von ihrer Kultur wissen. Ich bin den Dorfältesten sehr dankbar, dass sie ihre Familien und ihr Zuhause für einige Tage verlassen haben, um mich bei meinem ersten Aufenthalt in Etosha zu begleiten, und mir so viel beizubringen.“

Jacob Gaiseb, 22: “Während dieser Woche haben wir uns unseren Herkunftsort zurückerobert und wir haben uns selbst stärker gemacht. Wir haben vieles gelernt, was wir vorher nicht wussten. Ich bewundere das frühere Leben der Hai||om im Busch, weil sie frei waren. Ich will noch viel mehr von den Dorfältesten lernen bevor sie von uns gehen, und ihr Wissen und ihre Informationen zusammentragen.“

Nani Gamamus, 18: “Ich habe das Gefühl, dass das Leben meiner Großmutter so viel besser war als mein eigenes. Sie konnte zwar nicht lesen oder schreiben, aber sie wusste so viel mehr.“

Alle Zitate der Gruppe finden sich hier (auf englisch).

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Hintergrund

  • Der Bericht unseres Workshops (auf englisch).
  • Ein 3-minütiges Video des Workshops (auf englisch).
  • Die Website des Xoms |Omis Projektes mit Materialien der Hai||om-Kultur in Etosha, von der Anthropologin Ute Dieckmann: https://www.xoms-omis.org/
  • Weiterführende Informationen zur Situation der San in Namibia: Legal Assistence Center (2020): „Neither Here nor There – Indigeneity, marginalisation and land rights in post-independence Namibia“. Herausgegeben von Willem Odendaal und Wolfgang Werner.